Donnerstag, 3. März 2011

Interview — Teil 2

(Fortsetzung von Teil 1: Aussie & Aussies)


Coooo-eeee: Welche Werte sind den Australiern wichtig?

Oliver: Die Regierung fördert aktiv die multikulturelle Gesellschaft: eingewanderte Familien werden ermutigt, die Kultur ihres Herkunftslandes zu pflegen aber gleichzeitig die englische Sprache zu sprechen, die australische Kultur kennenzulernen und sich am öffentlichen Leben zu beteiligen. Gerade Melbourne ist extrem offen für Zugereiste, wie wir das waren. Es ist kein Nachteil, erst seit ein paar Monaten im Land zu sein; was zählt sind die Fähigkeiten und der Wille, mitzuhelfen als Firma oder als Nation erfolgreich zu sein.

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Kritik ist nicht so gerne gehört — man sagt lieber, was gut ist.

Die Familie hat einen sehr hohen Stellenwert, und es ist für Familien mit westlicher Abstammung nicht ungewöhnlich, drei oder vier Kinder zu haben. Die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau ist aber eher traditionell, auch wenn die Frauen im Geschäftsleben "gleicher" gestellt sind als in der Schweiz. Teilzeitanstellung ist viel weniger gebräuchlich als in Europa und für Männer nur selten möglich.

In der Freizeit sind Beruf und Herkunft einer Person kaum ein Thema, wichtiger ist der Charakter. Dafür zählen Statussymbole umso mehr: das grosse Haus, das grosse Auto, das grosse Boot, die lange Antenne auf dem 4x4, etc.  Das ist ein eher einfach gestricktes Muster. Ah, und das Auto oder Boot muss immer tiptop sauber gepützelt sein. Detailing nennt sich das, und es gibt in Melbourne hunderte von Kleinstfirmen, die sich darauf spezialisiert haben. Das eigene "Detailing" ist übrigens auch den Frauen extrem wichtig ;-)

Bleiben wir doch noch einen Moment bei den Mustern ...

O.K., gut, da habe ich schon noch ein paar Beobachtungen. Die Leute leben allgemein mehr in Schemen als in Europa. Man hat sich sozusagen damit arrangiert, nur eine "Nummer" zu sein. Es besteht weniger der Drang nach Individualität, die in der Schweiz manchmal etwas verkrampft wirkt. Der Australier ist eher stereotyp, d.h. man findet leicht Leute mit denselben Lebens- und Ausdrucksmustern. Das ist ja ein bisschen überall so, jedoch scheinen mir einige dieser Stereotypen eher abgegriffen und überlebt. Das kann man an den Männern und ihren Autos gut beobachten (Blog-Eintrag). Ebenso: alle Töfffahrer tragen lange Tarnhosen; stundenlang über Fischen oder Footy diskutieren und dazu ein Bier nach dem anderen Trinken, etc. Ähnliches gibt es bei den Frauen auch.

Wo man in der Schweiz eher die Nische sucht, wollen sich die Australier mit den anderen messen. Firmen gleicher Art haben ihr Geschäft an der gleichen Strasse; Kumpel haben (fast) dasselbe Auto; Frauen (fast) dieselben Schuhe. Man ist dafür mehr darauf fokussiert, die eigenen Vorteile herauszustreichen und die Schattenseiten einfach auszublenden. Das können sie gut, und da haben wir als Schweizer keinen "Stich" — wir halten uns ewig mit den Mängeln auf und übersehen dafür das Herausragende.

Die Frauen versuchen, Frauen zu sein statt sich an den Männern zu orientieren. Make-up, Frisur, High-heels und kurze Kleider sind die Mittel. Die Finger- und Zehennägel lassen sie in einem der tausend Studios pflegen. Und am Freitagabend ist alles nochmals etwas extremer.

Während im Geschäftlichen Mann und Frau möglichst gleich auftreten und behandelt werden wollen, ist es im Privaten genau das Gegenteil. Am Abend trifft man viele reine Frauengruppen oder Männergruppen, die ganz andere Interessen haben (girlie thing, bloke thing) und sich ganz anders verhalten.


Die Männer haben ein Identitätsproblem und scheinen nicht mehr zu wissen, ob sie Macho oder Softie sein sollen. So gibt es beide Sorten und alle Zwischenstufen. Den Crocodile Dundee findet man allerdings nur noch selten. Ich glaube, in der Schweiz eifern die Männer weniger eine Rolle (role model) nach und fühlen sich ehrlich gut so, wie sie ihr Leben arrangiert haben. Diese Rollen-Prototypen ziehen sich in Australien auch in die Familie hinein, wo die Frau von den Männern öfter als Kontrollinstanz hingestellt wird (z.B. "the handbrake" genannt), nach dem Motto, "ich kann mir keine neuen Felgen fürs Auto leisten, weil meine Frau das nie zulassen würde". Das führt dann zu Spannungen und Unzufriedenheiten, die nicht sein müssten, weil die Frauen mit dieser Rolle nämlich auch nicht zufrieden sind. Aber die materiellen Zwänge und die Statussymbole verlangen nach Ausgaben, die das Budget zum (Über-) Leben zu sprengen drohen. Eine billige Wohnung zu mieten ist nicht möglich, weil kein Angebot besteht. So haben die meisten ein Haus mit einer Hypothek, die sie zum Geldverdienen zwingt. Dem kann man sich nicht einfach entziehen.

Ist Australien eine materialistische Gesellschaft?

Ja, finde ich. Es ist unheimlich, welche Masse an Konsumgütern viele Familien besitzen. Mindestens zwei Autos, mehrere Flachbildfernseher, mehrere Computer, ungezählte Mobiltelefone, riesige Kühlschränke, Maschinen für alles und jedes, ein Motorboot, einen Anhänger, einen Motocrosstöff, ein Wohnwagen, etc. Garagen und Hinterhöfe voll Zeug. Sie würden sich besser mehr Velos kaufen als mehr Motorisiertes.


Obwohl es viele Australier gibt, die zwei oder sogar drei Jobs haben, um der Familie das Überleben sichern zu können, hat der Durchschnitt — mindestens in den grösseren Städten — einen sehr hohen Lebensstandard. Sehr viele neue und teure Autos sind unterwegs.
Wie schon erwähnt, hat Australien die Finanzkrise ziemlich unbeschadet überstanden. Eine Massnahme der Regierung war, jedem Bürger 500 Dollars (oder so) zu schenken, damit er sie ausgibt. Das hat natürlich vor allem den Konsum gefördert, aber das war auch das Ziel.

Was waren Eure Erfahrungen mit den Behörden?

Da kann ich wirklich nicht viel Negatives sagen. Da es traditionell sehr viele Leute gibt, die weit von Städten und Ämtern weg wohnen, konnte man schon immer das Meiste übers Telefon erledigen. Nun ist es das Internet. Es gibt fast alles online, und die Formulare sind stets übersichtlich und klar erklärt. Ich möchte das von der Schweiz auch sagen können ...

Unser Arbeitsvisum hatten wir in weniger als drei Wochen; es kam als Email. Das war's; kein Aufkleber im Pass oder so. Unbürokratisch, sozusagen. Einwanderer und Visas sind ein Geschäft für den Staat, das muss man klar sehen, da lohnt sich Effizienz.

Die Steuererklärung scheint einfacher als in der Schweiz (wir liessen sie beide machen); zwei Wochen später waren wir definitiv veranlagt, und die zu viel bezahlten Steuern (Quellensteuer) wurde innert zehn Tagen erstattet.

Einzig während ich versuchte, unser Auto zu versichern, war ich dem Schreien nahe. Es wusste bei VicRoads (Strassenverkehrsamt von Victoria) einfach keiner, was sie mit einem Schweizer Fahrzeug tun sollten. Und bei jedem Anruf ist man wieder für zehn Minuten in der Warteschlange. Schliesslich wusste es doch eine Frau, die lange genug dabei war.


Woran hast Du Dich nicht gewöhnen können?

Oftmals denken die Leute einfach nicht und folgen einer übervereinfachten Vorschrift, die man ihnen einmal eingetrichtert oder auferlegt hat. Am meisten ärgert mich das, wenn es um Sicherheit geht, oder sollte ich besser sagen, Scheinsicherheit. Das führt am Ende dazu (wie in diesem Blog-Eintrag ausgeführt), dass keiner mehr Verantwortung übernehmen oder ein Risiko eingehen will, weil man ihm sonst vielleicht das Nichteinhalten einer Vorschrift nachweisen könnte, die so allgemein gehalten ist, dass alles darunter fallen muss. Es ist diese Kultur der Absicherung ("cover ass"), die mich stört.
Im Flughafen Melbourne erklärte ein Herr mit Mikrofon den Wartenden, dass nur maximal 100 ml Flüssigkeiten mit in die Flugzeugkabine genommen werden können. Und als Mass nehme man die auf die Packung aufgedruckte Menge, nicht den effektiven Inhalt. Dazu hielt eine fast ausgedrückte Tube mit Aufdruck 150 ml in die Luft, und fügte beinahe stolz an, "we will take this away from you!".

Das zweite ist der sogenannte quick win — alle wolle immer den schnellen return on investment, und wenige sind bereit, in Qualität zu investieren. Das hätte eigentlich bei den Werten noch anfügen sollen. Ich muss sagen, dass ich auch oft beeindruckt war, wie man in Australien Probleme auf pragmatische Art und ohne grosse Ausgaben löst. Allein das Argument, dass eine Lösung qualitativ besser ist als eine andere, reicht nicht. Es wird vorsichtiger abgewogen, ob sich die Qualität auch rechnet, was eigentlich gut ist. Problematisch — oder schon fast fatal — wird es aber, wenn die Periode für die Amortisation nur ein, zwei oder drei Jahre sein darf. Dann muss alles Visionäre sterben. Die Regierung kann fast keine Projekte angehen, die sich nicht innert einer Amtsperiode umsetzen lassen, sonst steht sie vor der nächsten Wahl ohne greifbare Resultate (achievements) da und wird nicht wiedergewählt.


Umweltschutz gehört auch in diese Kategorie. Praktisch der ganze Strom, den Victoria verbraucht — und das sind immerhin 5.5 Mio Einwohner — stammt aus Braunkohle. Und das bei all der Sonne, dem Wind und der Wellenkraft, die verfügbar wären. Häuser sind kaum isoliert und müssen im Sommer bei Temperaturen von bis zu 45°C gekühlt, im Winter geheizt werden. Viele Autos haben durstige 6- oder 8-Zylindermotoren. Rezyklierbarer Abfall wird zwar eingesammelt, aber der grosse Rest wird deponiert und nicht etwa verbrannt (Wärmerückgewinnung). Es ist auf kurze Frist eben günstiger, weiter zu verfahren wie bisher. Zu allem Überdruss haben die Aussies dann auch noch das Gefühl, sie seien unter den Weltbesten, wenn sie ein bisschen Abfall trennen.

Was hast Du an den Australiern besonders schätzen gelernt?

Sie sind wirklich sehr offen und hilfsbereit und lassen einem teilhaben an ihrem Leben. Wir fühlten uns jederzeit willkommen. Wenn man mal ein bisschen smalltalk mit einem Australier gemacht hat, dann gibt er einem auch noch einen Geheimtipp, was man unbedingt tun oder sehen muss. Das ist wirklich toll.


(Fortsetzung: Teil 3, Leben und Arbeiten in Melbourne)

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