Montag, 26. Mai 2014

Was ist ein Energieinformatiker?

Und schon sind wieder zwei Semester meines Studiums vergangen — die letzten zwei Semester. Im Sommer 2013 standen eher allgemeinbildende Fächer auf dem Programm, u.a. Kommunikation, Projektmanagement, Qualitätsmanagement, Prozessmanagment. Im vergangenen Winter hatte ich eine Masterarbeit zu schreiben. Und jetzt ist alles Geschichte: am Freitag flatterte der definitive Bescheid ins Haus.


Im Fach Kommunikation hatte ich einen Englischkurs am PC zu absolvieren. Das scheint auf den ersten Blick banal, wenn man seit zwanzig Jahren beruflich fast täglich mit englischsprachigen Kollegen zu tun hat und schon über zwei Jahre im Ländern verbracht hat, die ehemals der britischen Krone unterstanden. Aber hoppla, ich hatte den technischen Fortschritt bei der Lernsoftware unterschätzt: alle Module waren sehr praxisorientiert, enthielten Fotostories und Dialoge zum Anhören; der Aussprachetrainer — jawohl, man spricht zum Computer — erwies sich als ausgesprochen pingelig, sodass ich an meiner Aussprache und Betonung zu feilen hatte, bevor es weiterging.


Der technische Fachwortschatz für Energiebelange war ziemlich umfangreich und oft überraschend anders: von Fernheizung kommt man nicht sofort auf district heating, und Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) wird paarweise genau umgekehrt sortiert, nämlich chlorofluorohydrocarbon (CFC). Ein ausgezeichnetes dreitägiges Kommunikationsseminar mit den Schwerpunkten Präsentationen und Mitarbeitergespräche rundete das Programm ab.

Auch im Fach Projektmanagement warteten ein paar Überraschungen für denjenigen, der gedacht hatte, nach zwanzig Jahren Projekterfahrung zu wissen, wie man Projekte führt. Der Dozent schaffte es, in einem gut 150 Seiten starken Skript eine griffige und praktische Methode zu vermitteln, die sich auf eine grosse Bandbreite von Projekten anwenden lässt und das Projektrisiko vermindert, ohne dass unnötige Dokumente zu erstellen und zu pflegen sind. In einer praktischen Gruppenarbeit war über das Semester ein Projekt zu planen und zu führen, wir entschieden uns für das Thema 2, «Länderübergreifender Windpark», und bauten ein fiktives Windkraftwerk in den Bodensee. Die fünf Gruppenmitglieder waren über Deutschland und die Schweiz verteilt, sodass es galt, die Arbeit über Skype und Email zu koordinieren und die Ergebnisse in Microsoft SharePoint zu erarbeiten (ich erspare mir hier abfällige Bemerkungen über das Tool).

Ebenfalls unerwarteten Erkenntnisgewinn gab es im Fach Prozessmanagement, denn ich war seit langer Zeit ein grosser Skeptiker der "Prozessitis" in den Unternehmen gewesen. Zwar galt es hier, sich durch 500 Seiten eines Standardwerks1 zu kämpfen, aber der Ansatz überzeugte mich in seiner Radikalität. Die Umsetzung dürfte aber schwierig sein, denn anstelle einer funktionalen Unternehmensgliederung in Divisionen, Abteilungen, etc. wird die Firma entlang seiner Wertschöpfungsprozesse aufgeteilt: ein Prozess ist nicht mehr ein Ablaufbeschrieb sondern eine Unternehmenseinheit, die aus Leuten besteht, welche genau einen End-to-Endprozess betreiben, überwachen und laufend verbessern. Jeder Geschäftsprozess beginnt dabei immer beim Kunden und endet immer beim Kunden.

Ein noch grösserer Skeptiker war ich gegenüber ISO 9000. Ich war bisher der Meinung, man müsse Qualität "vorne" ins Produkt einbauen statt sie "hinten" ins Produkt hineinzuprüfen oder hineinzutesten. Auch hier lehrte mich ein sehr gutes Skript eines besseren. Und jetzt weiss ich sogar, dass man sich ISO 9001 (nicht ISO 9000!) zertifizieren lässt, und dass der ISO 900x-Standard im Kern ein sehr knapp gehaltenes Werk ist (12 Seiten für ISO 9000, 15 Seiten für ISO 9001). Nicht zufällig wurde ich letzte Woche bei Paranor zum QMB ("Qualitätsmanagementbeauftragter") bestimmt, weil die Führung von Paranor beschlossen hat— ohne meine Anregung oder mein Zutun !—, dass wir uns ISO 9001 zertifizieren lassen wollen. Eine gewisse Skepsis bleibt mir dabei, aber jetzt kann ich wenigstens mit etwas Hintergrundwissen urteilen. Und ich glaube, dass uns diese Zertifizierung tatsächlich Nutzen bringen wird.

Ab Mitte Oktober stand dann die Master Thesis mit einem vorgegebenen Aufwand von 450 Stunden an. Um es vorweg zu nehmen: natürlich haben die 450 Stunden am Ende nicht gereicht …
Es war nicht ganz einfach gewesen ein Thema resp. einen Betreuer zu finden, zumal ich etwas Angewandtes in der Schweiz machen wollte. Prof. Urs Muntwyler vom Photovoltaiklabor der Berner Fachhochschule Burgdorf dachte sich ein Thema für mich aus: «Konzeption und Protoyping eines
Smart-Grid-Leistungsmanagements für elektrische Sanitärverbraucher in einem Mehrfamilienhaus».


Wenn man "Sanitärverbraucher" durch "Durchlauferhitzer" ersetzt, dann kann man sich schon halbwegs etwas vorstellen. Das Poster (oben), welches den praktischen und leicht verständlichen Teil meiner Arbeit zusammenfasst, sagt einleitend und zugleich zusammenfassend:
Die zentrale Aufbereitung des Trinkwarmwassers und dessen dezentraler Konsum in Mehrfamilienhäusern leidet unter grossen Wärmeverlusten bei der Bereitstellung und Verteilung. Nahe an den Zapfstellen installierte elektrische Durchlauferhitzer haben vernachlässigbare Bereitstellungs- und Verteilungsverluste. Sie liefern das Warmwasser gradgenau und innert Sekunden. Dazu beziehen sie dreiphasig elektrische Leistungen von bis zu 27 kW. Laufen in einem Mehrfamilienhaus gleichzeitig viele Durchlauferhitzer mit hoher Leistung, können sie in der Summe eine Überlastung des Hausanschlusses verursachen. (...)
In einem Prototypenprojekt sollte die technische Machbarkeit und die Wirtschaftlichkeit eines Produkts zur Begrenzung der kollektiven Maximalleistung der Durchlauferhitzer in einem Mehrfamilienhaus geprüft werden. (...) 
Eine Laboranlage demonstriert mit handelsüblichen Komponenten die prinzipielle Wirksamkeit der Steuerung und deren intuitive Bedienung.
Wer sich nun vor lauter Interesse für die Arbeit nicht mehr halten kann, dem sei das kurze Studium des Posters empfohlen (PDF). Die 120 Seiten der Master Thesis werden sich die wenigsten antun wollen. Für mich war die Arbeit sehr interessant. Mein Betreuer gab mir fast vollständige Freiheit, ich erhielt sehr viel wertvolle Unterstützung von der Firma Clage in Lüneburg, welche mich zum Besuch ihrer Firma einlud und mich zwei Tage ins Büro ihrer Informatiker setzte, wo ich den Grundstein für meine Software-Steuerung legen konnte. Das also machen Energieinformatiker zum Beispiel. Sehr motivierend! Dass ich die anfänglich anvisierte DigitalStrom-Technologie für die Gebäudeautomation letztlich nicht einsetzen konnte, war zu verschmerzen.

Inzwischen arbeite ich bei Paranor AG wieder 80%. In den "anderen" 20% versuche ich mich in die Schweizer Energiewirtschaft einzuarbeiten, oder auch ganz einfach das zu tun, was in den letzten zweieinhalb Jahren liegenblieb oder zu kurz kam. An einem Workshop bei Paranor kamen wir letzte Woche zum Ergebnis, dass die Energiewirtschaft mehrere Chancen bietet, dass wir uns diesen Markt aber wohl Stück für Stück werden eröffnen müssen. Vielleicht heisst es dann eines Tages: Paranor Engineering AG, Energieinformatik ;-)  Aber grundsätzlich stünden mir jetzt natürlich auch noch andere Wege offen. Nur selbständig machen werde ich mich nicht, das weiss ich.

Geschäftsprozessmanagement in der Praxis von Schmelzer und Sesselmann